Landkarte
Trincomalee Kohima 2

Kohima (Nagaland)

Fake traditional Angami House in Kohima, Nagaland, North-East India

Nachgebautes traditionelles Haus im Stil der Angami Naga

Christian (mostly Baptist) Churchis in Kohima, Nagaland, North-East India

Wuchtige Kirchen dominieren das Stadtbild von Kohima

Liebe Birgit,

manch­mal werden Wun­der doch wahr. Fast genau vor einem Jahr hat­te ich Dir ja aus Guwa­hati von meinen Be­geg­nun­gen mit den Nagas und anderen Nord­ost-Stäm­men ge­schrie­ben und dabei traurig an­gemerkt, daß ich deren Heimat, die Bundes­staaten Naga­land, Manipur und Mizoram, nicht be­suchen dürfte. Wenige Wochen später hob die indi­sche Zentral­regie­rung den Zwang zum Restricted Area Permit für Aus­länder auf, be­fris­tet auf ein Jahr. Und nun, ein Jahr später und in den letz­ten Tagen der Frei­heit, bin ich end­lich auch hier: In Kohima, der Haupt­stadt des seit der Unab­hängigkeit ver­schlos­se­nen Bundes­staates Nagaland.

Ob die li­be­rale Rege­lung nun die all­gemein er­warte­te Ver­länge­rung er­fährt, ist hier nieman­dem be­kannt — nicht einm­al den Beamten im Super­indendent Police Office, bei denen ich mich am ersten Tag meines Auf­ent­haltes zu melden hatte. Wenn ich also Pech habe, fliege ich in gut einer Woche hoch­kant aus dem Berg­land des Nord­ostens heraus und muß wieder in die Ebenen von Assam zurück; andern­falls kann ich hier in den nächsten Wochen und Monaten drei touris­tisch völlig unter­entwickelte Bundes­staaten auf Herz und Nieren be­reisen. Und in jedem Fall kann ich bis zum Jahres­wechsel zwei der drei so lange ver­bote­nen Haupt­städte kennen­lernen: Im Moment Kohima und in der letzten Woche des Jahres dann Imphal in Manipur; für Mizoram existiert noch ein Not­fall-Plan. Irgend­etwas wird schon gelingen!

Singers in Naya Jivan Baptist Church, Kohima, Nagaland, North-East India

Sänger und Musikanten in einer Baptisten-Kirche

Naga people in Kohima, Nagaland, North-East India

Kohima hat extrem freundliche Bewohner

Euphorbia pulcherrima: Poinsettia, Christmas star growing in Kohima, Nagaland, North-East India

Weihnachtssterne wachsen überall und erreichen 3 m Höhe

Warum ich mit Kohima begonnen habe, ist ganz schnell er­klärt: Die Nagas sind fast aus­schließ­lich Christen, und daher ergibt sch die Ge­legen­heit, wie im letzten Jahr, Weih­nach­ten in einem christ­lichen Um­feld zu er­leben. Diese Nagas sind ein ganz er­staun­liches Völk­chen: Ge­gliedert in über zwanzig Stäm­me mit von­einander stark ab­weichen­den Sprachen lebten sie Mitte des 19. Jahr­hunderts noch als halb­nackte Kopf­jäger in kleinen, per­manent mit­einan­der kämpfen­den Dörfern; in­zwischen sehen sie sich als eine ein­heit­liche Nation (was ihnen den großen Ärger mit Indien und die jahr­zehnte­lange Iso­lation ein­gebracht hat, denn Se­para­tisten werden in Delhi gar nicht ge­mocht), haben die am steil­sten wach­sende Bildungs­kurve Indiens und sind ganz wild darauf, mit der Welt ernst­haft in Kon­takt zu treten.

In Naga­land ist Eng­lisch die ein­zige of­fi­ziel­le Ver­wal­tungs­sprache (ein Kurio­sum ersten Ranges in Indien). Der Grund dafür liegt in der Un­verständ­lich­keit der Naga-Spra­chen unter­einan­der. Um mit anderen Stäm­men zu kom­muni­zieren, ver­wenden die Nagas eine Art ab­gespeck­tes Assame­sisch mit vielen Naga-Wörtern („Naga­mesisch“), heute aber auch oft Eng­lisch. Die Men­schen haben in drei bis fünf Ge­nera­tionen eine Ent­wick­lung durch­lebt, für die Europa ein- oder zwei­tausend Jahre ge­braucht hat. Wie weit das geht, sehe ich in dieser Sekunde: In dem freund­lichen Naga-Restau­rant, in dem ich gerade meine ge­bra­te­nen Nudeln ver­zehre und den Tee dazu schlürfe, kann ich be­obach­ten, wie am Nachbar­tisch drei junge Damen in ihren späten Teens sitzen und sich kichernd unter­halten; eine hat gerade die Bier­flasche mit den Zähnen ge­öff­net und ihren Freundin­nen ein­gegos­sen. Im „echten“ Indien wären solche „Ber­liner Sitten“ nicht möglich!

Naga boy selling rats for food at Central Market in Kohima, Nagaland, North-East India

Dieser Naga-Junge verkauft Ratten am Markt

WW2 War Cemetery, Kohima, Nagaland, North-East India

Das Kriegsdenkmal

Smiling Naga girl in Kohima, Nagaland, North-East India

Eine junge Naga-Dame

Die Stadt Kohima ist wie eine typi­sche Hill Station gebaut und zieht sich kilo­meter­lang an einem Rücken dahin; je tiefer man von den re­prä­sen­ta­tiven Häusern und Straßen­zügen an der Kuppe ab­steigt, umso primitiver und ärmlicher werden die Be­hausun­gen. In all diesen Dingen ähnelt Kohima meinem letzt­jährigen Weih­nachts-Standort Shillong, aber fast alles ist zwei Größen­ordnun­gen kleiner und hinkt ein gutes Jahr­zehnt in der Ent­wick­lung hinterher. Ledig­lich die baptisti­schen Kirchen sind un­erreicht, denn die Nagas sind die ein­zige mehr­heit­lich baptisti­sche Nation der Welt, auch wenn man natür­lich die von harten Kirchen­steuer-€uros finan­zier­te Kon­kur­renz in Form einer kat­holi­schen Kathedrale findet.

Ernsthafte Sehens­würdig­keiten gibt es in der Stadt kaum. Ein­schlägig zu er­wähnen wäre hier höchstens das Kriegs­denkmal mit ein paar hundert Soldaten­gräbern, das nur einen Kilo­meter vom Stadt­zentrum ent­fernt auf einem kleinen Hügel steht und das an die Schlacht von Kohima im Früh­sommer 1944 er­in­nert. Damals drang eine japani­sche Division mit dem etwas größen­wahn­sinnigen Ziel einer In­vasion Indiens aus dem bereits von den Japanern er­ober­ten Burma über die Grenze nach Indien vor und wurde hier von briti­schen, chinesi­schen und ameri­kani­schen Truppen ge­stoppt. Die wich­tig­sten Kampf­handlun­gen spiel­ten sich rund um Imphal ab, aber Kohima lag auf der Ver­sorgungs­route für Imphal und er­lang­te deshalb hohe stra­tegi­sche Wichtig­keit. Ins­gesamt kamen wenger als ein Lakh Sol­daten auf beiden Sei­ten ums Leben, davon drei Viertel Japaner und die meisten als Opfer des Dschungels mit seinen Krank­heiten und seiner schlechten Infra­struktur; trotz­dem stößt man in der Li­tera­tur nicht selten auf blumig–blutige Epi­thete wie „das japan­ische Stalingrad“.

Das Kriegs­denkmal ist übri­gens in einem er­staun­lich guten Zustand, sehr sauber und gepflegt. Die Soldaten­gräber, die das eigent­liche Denk­mal in Sek­toren um­geben, sind nach reli­giösem Be­kennt­nis ge­ordnet und mit einem Kreuz, einer Koran­sure oder einem Om Bhagavate Namah („Ehre dem Gött­lichen“) ge­schmückt; letz­teres deckt be­quemer­weise alle Hindus ab, welcher Sekte sie auch an­gehören mögen.

Snails at the Market in Kohima, Nagaland, North-East India

Frische Schnecken

Grubs (Silkworms) at the Market in Kohima, Nagaland, North-East India

Aus denen wird kein schöner Seidenspinner mehr!

Elsholtzia blanda culinary herb (niepfü) for Naga cooking, Kohima, Nagaland, North-East India

Das zitronenduftende Würzkraut niepfü

Sonst gibt es in der Stadt nicht viel zu sehen, aber man kann ja immer auf den Markt gehen. Dort wuselt es von aller­hand un­indischen Lecker­eien: Schnecken, Frösche, Maden und Insekten­larven, manche größer als mein kleiner Finger, krümmen sich auf flachen Tellern, bis sich ein Käufer ihrer erbarmt und ich­weiß­nicht­was damit anstellt. Schnee­weiße Ratten drängen sich unter kleinen Draht­netzen, bis sie ver­kauft und ihrem neuen Schick­sal ent­gegen­getragen werden (das be­steht dann sicher­lich nicht im Gestreichelt­werden).

Eigenartige Gewürze findt man auch, darunter ein Ver­wandter von Sichuan­pfeffer und und ein etwas enig­matisches Kraut, das vom Aus­sehen her etwas an Lavendel­blüten erinnert und hier niepfü heißt; es handelt sich, wie ich mit viel Recherche heraus­gefunden habe, wohl um eine Elsholtzia-Art mit einem sehr angenehmen, reinen Citrus­duft. Sogar die bei uns als „Malven“ bekannten roten Hibiscus-Kelche bekommt man frisch und getrocknet zu kaufen, ich habe sie in Indien noch nie zuvor gesehen. Und natürlich gibt es überall den super­scharfen Naga-Chili, aber dazu schreibe ich besser später etwas. Zuletzt ist auch die große Auswahl an getrock­neten und fermen­tierten Fisch­produkten erwähnens­wert; frische Fische gibt es auch, sie zucken halb­lebendig in kleinen Kübeln umher.

Naga Food: Galho (rice with mustard cabbage leaves), Kohima, Nagaland, North-East India

Galho

Chow Mien Chinese-style fried noodles in Kohima, Nagaland, North-East India

Chow Mein

Die Küche ist leider nicht so gut und viel­fältig, wie man es nach Besuch des Mark­tes er­war­ten wür­de — statt­dessen domi­nieren in den Re­stau­rants Stan­dard-Berg­land-Gerichte wie Chow Mein und Momo, beides aller­dings mit Schwein und daher schmack­hafter als anders­wo (beson­ders, wenn man noch einen Naga-Chili dazu­knabbert, und das braucht es wegen der Unmengen an Salz und Glutamat auch dringend). Viele der inter­essan­teren Restau­rants sind wegen der Weihnachts­feiertage ganz geschlossen, von einem sehr guten erzähle ich Dir allerdings das nächste Mal.

Der Laden, in dem ich gerade sitze und gemüt­lich vor mich hin­tippe, heißt Cloud 9 und liegt gleich am Gemüse­markt. Er wird von einer freund­lichen Naga-Frau und ihren Töchtern betrieben und bietet eine ange­nehme Atmo­sphäre zum Sitzen und Fraterni­sieren, dazu noch eine leider ziemlich unauf­regende Küche. Hier bekommt man Galho, das ist ein sehr feuchter Reis mit darunter­gemischten Kohl­blättern, zu dem man gebratenes Schweine­fleisch ißt. Die Schweine werden, ähnlich wie ich es letztes Jahr in Nepal gesehen habe, in winzig kleinen Holz­verschlä­gen vor den Häusern gehalten und liefern ein sehr fettes, aber auch aromati­sches Fleisch.

Es ist jammerschade, daß ich nicht viel länger hierbleiben kann;aber der Jahres­wechsel kommt mit Riesen­schritten, und ich fühle den Zwang, noch rasch nach Manipur zu schlüpfen, ehe die Grenze im schlimmsten Fall für weitere sechs Jahr­zehnte dicht­gemacht wird. Also werde ich in den nächsten Tagen noch einen schnellen Brief von hier verschicken, ehe ich mich in den zweiten der so lange unzugänglichen Staaten aufmache.


Trincomalee Kohima 2

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