Die Valaquenta

Dieser Text beschäftigt sich mit der Valaquenta, einem Bestandteil von J.R.R. Tolkiens posthum veröffentlichen Werk Das Silmarillion. Falls Sie Das Silmarillion nicht gelesen haben (oder es zwar gelesen haben, aber nicht besonders in die Tiefe gehen wollen), dann werden Sie wahrscheinlich mit dieser Diskussion der Valaquenta nicht viel anfangen können. Wenn Sie von Tolkien nur das Hauptwerk Der Herr der Ringe kennen, dann lesen Sie lieber zuerst die Tolkien FAQ.

Einleitung
Geschlechtlichkeit
Die einzelnen Valar

Einleitung

Die Valaquenta ist nach der Ainulindale der zweite Teil des Silmarillions. Er hat den Charakter einer Einführung: Es werden die halbgöttlichen Mächte vorgestellt, die auf die weitere Entwicklung Ardas mehr oder weniger kräftigen Einfluß ausüben werden. Die Valaquenta bereitet somit die Bühne vor, auf der sich die Handlung der folgenden Quenta Silmarillion entwickeln wird.

Ich glaube nicht, daß man die Valaquenta mit der Genesis vergleichen kann; das ist zwar verschiedentlich geschrieben worden, aber in meinen Augen kaum zutreffend. Einen solchen Vergleich könnte man noch eher mit der Ainulindale ziehen, aber auch hier tun sich große Unterschiede auf.

Die Valaquenta stellt uns die Persönlichkeiten einiger übernatürlicher Wesen näher vor; das hat keine Entsprechung im christlichen Bild, weil es in der christlichen Mythologie nur ein bedeutendes übernatürliches Wesen gibt. Die christlichen Engel sind überwiegend anonyme, austauschbare Diener ihres Herrn.

Die Valaquenta, und fast nur diese, erzählt uns über die Wohnorte, Partnerschaften und Charaktere der Valar. Einige, besonders die Damen, treten außerhalb der Valaquenta kaum in Erscheinung (Wer hat sich schon gemerkt, wann Este, Vaire oder Vána in die Geschichte der Noldor treten?), und so ist die Valaquenta die wesentliche Quelle über diese Personen.

Letztlich aber, und das ist weniger offensichtlich, schafft die Valaquenta aber auch eine Beziehung zwischen den Valar und der Kindern des Einen. Die Valaquenta ist der einzige Teil des Silmarillion, der fast ganz im Präsens abgefaßt ist. Hier wird nicht tote Geschichte erzählt, sondern hier wird von Personen berichtet, die jetzt, in diesem Augenblick, leben und handeln.

Doch wo sind die Valar heute? Auch dieses Thema wird in der Valaquenta subtil angeschnitten, im Abschnitt über Orome; doch dazu am Ende.

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Das Geschlecht der Valar

Eine Frage sollte ich hier generell diskutieren, weil sie leicht übersehen wird: Wie ist bei den Valar das Verhältnis von männlich und weiblich? Was bedeutet z.B. Bei Manwe wohnt Varda? Ist das ein energiegeladenes Verhältnis wie zwischen Shiva [शिव] und Parvati [पार्वती], oder geht es auf dem Taniquetil ruhiger zu als am Berg Meru [मेरु]?

Auf der einen Seite wird klargestellt, daß Geschlechtlichkeit eine Eigenschaft eines oder einer Ainu an sich sind: Die Körper, die sich die Valar in Arda gewählt haben, stellen diesen Unterschied dar, aber sie erzeugen ihn nicht. Analoges gilt übrigens auch für Elben, weshalb Wiedergeburt nur mit demselben Geschlecht möglich ist.

Doch wie weit gehen die sexuellen Charakteristiken der Valar wirklich? Heiraten sie im menschlichen Sinn? Man könnte meinen, diese Frage sei unschicklich, und deshalb verschweigt Tolkien sie uns; aber das ist nicht richtig, denn in früheren Versionen der Quenta Silmarillion haben die Valar tatsächlich Kinder, und es wird von wife (Ehefrau) gesprochen, wo spätere Versionen spouse (Gefährtin) haben. Warum dieser Wechsel zum Asexuellen?

Ich denke, das hat mit der neuaufkommenden Idee zu tun, daß die Valar nichts Lebendes erschaffen können (wichtig für die Orkfrage). Wenn Eonwe (wie in den frühen Versionen) der Sohn von Manwe und Varda ist, dann fragt man sich ja auch, warum Melkor nicht mit ein paar knusprigen Balrogdamen zur Sache kommt. Theologisch führt dieser Ansatz ins tiefste Mittelalter, und Tolkien war offenbar nicht bereit, diesen Weg zu verfolgen, IMHO ein Good Thing (TM).

Damit sind aber die Valar Tolkiens einzigartig, da ihnen die simple Möglichkeit, Leben zu schaffen, abgeht (jede Maus kann das, und zwar sehr effizient). Odin hatte seinen Baldur, und Zeus seinen Herakles oder Dionysos; alle höheren Wesen der mir bekannten Mythologien haben der Fortpflanzung gefrönt, sogar im Alten Testament finden sich davon Spuren. Das zeugt einfach davon, daß den Menschen, die diese Mythologien erfunden haben, Sexualität als wichtige Sache erschien, die den Göttern selbstverständlich zugestanden werden mußte – wer wollte schon ohne S*x leben? Die Valar Tolkiens müssen das.

Daher war von Anfang an war eine gewisse Form der Vergreisung in Ea des voraussehbare Schicksal der Valar. Mit der späteren Entfernung Valinors aus der sichtbaren Welt wird sich dieses Problem noch verstärken, und die Valar werden in einer unveränderlichen Welt fast nur noch in ihrer eigenen Erinnerung existieren können.

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Die einzelnen Valar

In diesem dritten Teil möchte ich die mir auffälligen Aspekte der Beschreibungen der einzelnen Valar behandeln.

Am Anfang wird, nach einer Einleitung, kurz die Geschichte des unseligen Zwistes zwischen Melkor und den anderen angesprochen, doch dient sie hier nur dazu, dir Treue der Valar zu den Plänen Ilúvatars klar herauszustreichen: Manwe ist mächtig aber nicht rebellisch, König (von Erus Gnaden) aber nicht Tyrann.

Manwe wird noch oft in der Geschichte auftreten, und viele Entscheidungen zu fällen haben. Eigenartigerweise erfahren wir jedoch über ihn persönlich wenig, weniger noch als über die anderen Valar. Dieses Stilmittel ist der mittelalterlichen Literatur entlehnt, in der der König immer nur aus der Distanz beschrieben wird und nur Funktion, aber kaum Person ist: Er funktioniert, und das ist alles, was wir von ihm wissen müssen.

Vardas bedeutende Rolle als Gegenspielerin Melkors, die in den historischen Kapiteln der Quenta Silmarillion fast nur in Andeutungen zu finden ist, wird hier klar dargelegt: Sie hat Melkor abgewiesen, und wird von ihm am meisten gehaßt. Das erklärt auch ihre Liebe zu den Elben, bei denen sie auch nach Jahrtausenden in Mittelerde noch höchstgeehrt bleibt. Im Herrn der Ringe wird ihr Name von allen Valar mit Abstand am öftesten genannt.

Während Manwe und Varda stets harmonisch und eines Sinnes sind, kommt nun mit Ulmo ein Gegenpol ins Spiel. Er geht selten zum Rat der Valar, lebt solitär in den Tiefen und kleidet sich selten in eine Gestalt. Aber er ist den Idealen Erus und Manwes treu, und er ist Mittelerde am stärksten verbunden. Die Betonung liegt auf ist: Auch heute noch spricht Ulmo mit der Musik der Wasser zu den Bewohnern Mittelerdes, und er erhält Nachricht von allen Nöten und Leiden Ardas. Wie wir wissen, tat er das sogar in Zeiten eines verordneten Boykotts.

Ulmos Sein erscheint als das eines geehrten Außenseiters, der nicht ganz dazugehört, auf dessen Wort man aber gerne hört, weil er unkonventionelle Einsichten bringt.

Anders ist die Situation mit Aule. Auch wenn er eigene Gedanken denkt, so ist er doch den Valar eng verbunden, und hat nicht die intellektuelle Unabhängigkeit Ulmos. Herausgestrichen wird seine Treue zu Eru, aber die spätere Geschichte wird zeigen, daß er weniger weise als die anderen Valar war, daß man ihm eine gewisse Sturheit und Kurzsichtigkeit vorwerfen kann und daß er eine geringere Einsicht in die Struktur Ardas hat. Es ist auch bemerkenswert, daß zwei seiner Angestellten, Sauron und Cúrumo (Saruman), zu Verrätern wurden. Darin spiegelt sich, wie ich meine, die Technikkritik Tolkiens, der Lebendes und Wachsendes dem Mechanischen immer vorzog.

Yavanna erinnert an die Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen alter Kulturen. Sie ist konkreter, weniger geistig, als andere Valar, weil ihre Liebe zu Arda sie stofflicher, greifbarer macht. Der Satz Manche gibt es, die haben sie wie einen Baum unter dem Himmel stehen sehen ist einzigartig in seiner Konkretheit, und doch nur die entschärfte Version einer früheren Version aus den 50ern, als der Erzähler, der Weise Rúmil, noch schrieb Ich sah Yavanna! und ihr damit eine noch dramatischere Konkretheit gab.

Námos Rolle als Verkünder der Urteile und Entscheidungen Manwes wird später noch ausgebaut; auch in unpubliziertem Material tritt er prominent auf, wenn in der Diskussion um Finwes Neuverheiratung den Standpunkt Manwes vertritt. Da er sich um die fear der gestorbenen Elben kümmert und deren Wiederverkörperung einleitet, hat er eine der anspruchvollsten Positionen Valinors inne. Dagegen wird Vaire die Weberin nur ein einziges Mal in die Geschichte treten, wenn sie nämlich die wiedergeborene Míriel in ihr Haus aufnimmt (nicht im Silmarillion).

Irmo wird in der Geschichte keine bedeutende Rolle spielen, auch wenn seine Gärten und seine Träume oft gerühmt werden. Auch die sanfte, heilende Este erhält keinen profilreichen Charakter; allerdings sehen wir einen Teil Estes im Gesicht Melians, der Gemahlin Thingols, die ihr (und Vána) einmal gedient hat.

Bedeutender ist Nienna, die ein fast buddhistisches Ideal des Mitleides verkörpert: Sie steht für Trauer um das Leid anderer, und für Hoffnung. Über Hoffnung könnte man sich etwas verbreitern; bei Tolkien hat Hoffnung (estel) einen fast spirituellen Beigeschmack, weil es Vertrauen in die Güte und Weisheit Erus ist, der letztlich alles zum Guten wenden wird. Nienna verkörpert diese Hoffnung, die einen das Leid ertragen läßt; natürlich ist es auch gut katholische Tradition, Leid als Prüfung zu akzeptieren und seinen Glauben daran wachsen zu lassen.

Tulkas, der Starke, ist ein Fremdkörper bei den Valar: Spät gekommen, ohne besonderes Verständnis für die Welt, am Kampf an sich erfreut. Es fällt auf, daß viel körperlicher als alle anderen Valar gezeichnet wird: Sein Bart ist rot ist in Zusammenhang mit einem Vala geradezu absurd (vgl. S. 27 Daher können die Valar, wenn es ihnen beliebt, der Gestalt entraten), und seine Vergnügungen, Ringkampf, Kräftemessen und Laufen, stehen im Gegensatz zu den Freuden der anderen Valar, die sich nicht auf die körperliche Welt reduzieren lassen: Sie lieben andere Wesen (Manwe, Varda, Yavanna, Nessa), Musik (Ulmo, Nessa), kreatives Schaffen (Aule, Vaire), Natur (Orome, Yavanna, Vána), Schönheit (Irmo, Este) oder den anderen an sich (Nienna).

Von der leichtfüßigen Nessa wird später nicht viel gesagt, außer das zum Fest ihrer Vermählung Melkor Almarien angriff.

Bei Orome, dem Freund der Jagd und der Bäume, finden wir plötzlich einen Bruch im Stil (Hervorhebungen von mir):

Orome ist ein mächtiger Herr ... Orome liebte die Länder von Mittelerde; er verließ sie nur widerstrebend und kam als letzter nach Valinor ... Er ist der Jäger ... an Pferden und Hunden hat er seine Freude, und die Bäume liebt er.
Zweifellos wird hier der Rückzug der Valar deutlich, die Mittelerde zuerst den Eldar und dann den Atani überlassen haben.

Die Valar sind, aber in Mittelerde waren sie.

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Zu Gernot Katzers Tolkienseite.