Landkarte
Aizawl 1 Siehe auch Kohima 2 Matale & Nalanda Gedige

Aizawl 2 (Mizoram)

Road from Aizawl to Reiek, Mizoram (North-Eastern India)

Auf der Straße von Aizawl nach Reiek

Countryside near Aizawl and Reiek, Mizoram (North-Eastern India)

Mizoram ist grün und friedlich

Liebe Birgit,

wie ich be­reits letz­tens ge­schrie­ben habe, kann man sich in Aizawl eigent­lich nichts an­sehen. Daß ich trotz­dem noch hier bin, hängt mit unter anderem mit einem Kamera­defekt zu­sam­men, der einen Neu­ankauf nötig machte — natür­lich in einem un­sin­ni­gen Set, denn Bodies al­leine ver­kauft Sony in Indien nicht. Naja, immer­hin lief es bes­ser als beim letzten Mal, wo ich gleich nach Europa fliegen mußte.

Ungefähr 30 km west­lich von Aizawl liegt Reiek [sprich Rey-ek], und damit ver­mut­lich die ein­zi­ge Touristen­attrak­tion der ganzen Ge­gend. In dieser Kleinst­stadt wurden näm­lich ei­ni­ge tra­di­tio­nel­le Mizo-Häuser nach­gebaut und zu einem „Touris­ten­dorf“ zu­sam­men­gefaßt. Das wollte ich mir natür­lich an­sehen, aber dazu muß man erst einmal hin­kommen. Nach langer Suche fand ich einen Jeep-Stand im Stadt­teil Kathla, und er­fuhr zu meinem Schrecken, daß der erste Jeep morgens um 10 Uhr ab­fährt, und der letzte von Reiek nach Aizawl um 12:30. An­gesichts einer Fahr­zeit von ca. ein­einhalb Stunden würde das eine hastige Be­sichti­gung werden. Leider sind solche be­scheuer­ten Ver­bindun­gen im Nord­osten nicht unüblich.

Mizo bamboo house, in Mizo Tourist Village in Reiek, near Aizawl, Mizoram (North-Eastern India)

Wohnhaus eines gewöhnlichen Dorfmitgliedes

Monkey skulls decorating Warrior House Thangchhuahpa In, Reiek Mizo Tourist Village, near Aizawl (North-Eastern India)

Affenschädel zieren den Eingang ins Thangchhuahpa In (das Haus eines hervorragenden Kriegers)

Die Fahrt führte durch weit­gehend menschen­leeres und von grünen Wäl­dern be­deck­tes Hügel­land. Mizoram hat (nach Arunachal Pradeś) die zweit­kleinste Be­völkerungs­dichte aller indi­schen Bundes­staaten: Meine etwas ver­alteten Zahlen sprechen von 42 EW/km², ein Vier­zehntel des indi­schen Durch­schnitts­wertes und wenig mehr als ein Vierzigstel der Dichte von West­bengalen (ver­glichen mit dem be­nach­barten Bangla­desh wird es noch schlim­mer: Der Faktor be­trägt dann 54). Als der Jeep Aizawl erst einmal ver­lassen hatte, war außer Natur über­haupt nichts zu sehen; auf der erste Dorf stießen wir erst ein paar Kilometer vor Reiek (1550 m).

Das knap­pe Dutzend Bambus­häuser im „Touristen­dorf“ macht einen un­erwar­tet schä­bigen Ein­druck: Die Buden wir­ken so ab­gewohnt, daß ich sie für eine echte, auf­gege­be­ne An­sied­lung ge­halten hätte. Der Führer er­klärte mir, das Schau­dorf sei vor 10 Jahren gebaut worden und in­zwischen schon etwas re­paratur­bedürf­tig. Anders als in dem viel pro­fes­sio­nel­leren Frei­licht­museum in Kisama sind hier nicht die Häupt­lings­häuser ver­schie­de­ner Stämme in je­weili­gen Stil prunk­voll nach­gebaut, sondern es soll ein echtes Mizo-Dorf mit den Wohn­häusern ge­wöhn­licher Familien simuliert werden. Des­halb stehen die Gebäude wenig photogen im Schat­ten großer Bäume, machen aber anderer­seits einen sehr authenti­schen Eindruck.

Zawlbuk (Men's Dormitory), in Mizo Tourist Village in Reiek, near Aizawl, Mizoram (North-Eastern India)

Der „Männerschlafsaal“ (Zawlbuk)

Wooden Mortar for grinding rice, in Mizo Tourist Village in Reiek, near Aizawl, Mizoram (North-Eastern India)

Holzmörser (Sum) mit schwerem Holzstössel (Suk) zum Zerstoßen von Reis

Der eigen­artigste Bau ist der Zawl­buk, auf Eng­lisch meist “Dormi­tory” ge­nannt. Dort schliefen die un­verhei­ra­te­ten jungen Män­ner. In der Mizo-Tra­dition bilde­ten die jungen Män­ner eine Art Clique, die alle Streiter­eien intern regelte, und eine enge soziale Hack­ordnung achtete darauf, daß die Jungs die ge­sell­schaft­lichen Normen ein­hielten und ihren vermut­lich hohen Testo­steron-Spiegel sozial­verträgl­ich ab­bauten. Mädchen wohnten und schlie­fen dagegen in den Häusern ihrer Familien. Angeb­lich gibt es auch heute noch Dörfer mit dieser Einrichtung.

Der Dorf­häuptling residierte im Lal In, dem größten und mit zahl­reichen Trophäen ge­schmück­ten Haus; eben­falls recht ein­drucks­voll war das Thang­chhuah­pa In, das Haus eines her­vor­ragen­den Kriegers. Der Führer er­klär­te mir, daß all die Hör­ner, Ge­weihe und Schädel (Tiere, keine Menschen) vom Haus­besitzer selbst erbeutet wurden. Letzt­lich haben aber alle Wohn­häuser, un­ab­hän­gig von der Größe, den­selben zwei­teili­gen Auf­bau: einen kleinen Vor­raum am Eingang mit der Feuer­stelle zum Kochen, und einen großen Gemeinschaftsraum.

Indian/Mizo Food: Saisu (boiled banana stem)

Gekochter „Bananenstengel“ (Saisu)

Indian/Mizo Food: Boiled banana flower

Gekochte Bananenblüte (Tumbu)

Banana stems (sai zu) on a market in Aizawl, Mizoram (North-Eastern India)

„Bananenstengel“ am Markt

Indian/Mizo Food: Banana flowers (Tumbu) on a market in Aizawl, Mizoram (North-Eastern India)

Bananenblüten am Markt

Zurück nach Aizawl, zum Markt und zur Mizo-Küche. Dieses Essen rockt und über­nimmt in der zeit­lich of­fe­nen Nord­ost-Wer­tung klar die Füh­rung. Teil­weise ist das sicher nur der Tat­sache ge­schul­det, daß ich nach so vielen Jahren Indien jede Ab­wechs­lung be­grüße, aber auch un­abhän­gig davon hat die Mizo-Küche sub­stanzielle Quali­täten. Die Gemüse­vielfalt soll zwar später im Jahr am höch­sten sein, ist aber jetzt bereits be­eindruckend, und die simplen aber ef­fizien­ten Zu­berei­tungen bringen mich jedes Mal wieder zum Schnur­ren. Obwohl die Leute gerne Fleisch essen, kom­men auch Vege­tarier durch­aus auf ihre Kosten.

Indian/Mizo Food: Air transport for tee from Aizawl market hall to the market administration building

Luftbrücke für Tee

Beginnen wir mit Bananen. Die mag ich zwar nicht be­son­ders, aber die Mizo ver­werten nicht nur die Früchte. Am Markt findet man Bananen­blüten ver­schie­der Formen (lang oder rund) und Größen (Faust bis Unter­arm), und es gibt auch einen äußerst knackigen „Bananen­stamm“ (Du weißt ja, daß es „Bananen­stämme“ eigentlich gar nicht gibt). Zu­berei­tet wird das ganze ge­wöhn­lich durch Kochen in mild ge­würz­ter Brühe, und be­son­ders die Blüten (Tumbu) ent­wickeln dabei einen wunder­baren Eigen­geschmack, der ein bißchen an Arti­schocken erinnert.

Indian/Mizo Food: Broth cooked from dried fermented cabbage (Suan Tam)

Brühe aus Trockenkohl (Suan Ṭam)

Meine be­vor­zugte Kneipe im Markt­gebäude ist der Sangi Tea Stall, be­trieben von einer Frau, deren Toch­ter jetzt in den Ferien aus­hilft und sehr gutes Englisch spricht. Einige Male spazierte sie sogar mit mir durch die Stadt — eine so un­gezwun­gene Sym­pathie­bekundung durch eine Mädchen im heirats­fähigen Alter ist mir in Indien noch nie unter­gekommen. Die Dame des Hauses hat offen­bar ein spe­ziel­les Arrange­ment mit der Markt­verwaltung im Nachbar­gebäude: Imbisse und Tee werden — 15 m über den Köpfen der Menge — mit einem selbst­gebauten Seil­zug zu­gestellt. Das Ding wirkt, viel so vieles in Indien, hoch­gradig kriminell und wackelig, ver­richtet aber seit über einem Jahr klag­los seinen Dienst, wie man mir versicherte.

Zu den an­deren inter­essan­ten Dingen, die ich im Sangi Tea Stall ge­gessen habe, gehört Suan Ṭam, trocken fer­men­tierte Kohl­blätter, die sehr stark an den von mir so ge­liebten Gundruk in Nepal erinnern. Aller­dings ist die Zu­berei­tung ein­facher, weil die Blätter nur mit Wasser aus­gekocht werden. Weiters sollte ich noch ver­schie­dene Suppen aus Reis­grütze er­wähnen, die ganz gut schmeck­ten, auch wenn sie ganz und gar nicht photo­gen waren; ein Modell namens Sanpiau wurde mit knuspriger Ein­lage und burmesi­scher Fisch­sauce zum Ab­schmecken serviert.

Indian/Burmese/Mizo Food: Variety of Mizo dishes served in Grace Restaurant, Aizawl, Mizoram

Abendessen im Grace Restaurant: Links unten die Würze mit Langem Koriander, darüber Antam Thur, oben ein Teller Dal. Mitte Salat von Zawngṭah, darunter Schweinefleisch. Rechts gekochter frischer Kohl und darunter Chaw Ṭani.

Indian/Burmese/Mizo Food: Fermented sour cabbage (Antam Thur)

Das sauerkrautähnliche Antam Thur

Wie bereits er­wähnt, ist sonn­tags in Aizawl Tote Hose™. An meinem ersten Tote-Hosen-Tag lief ich mit knur­ren­dem Magen durch die post­apokalyp­tisch menschen­leeren Straßen, bis ich mit Hilfe von ein paar freund­lichen Poli­zisten das Grace Restau­rant etwas unter­halb des Markt­gebäudes fand. Das ist einer der wenigen Läden, wo man jeden Tag etwas zu essen bekommt, und der Besuch lohnt sich auch wochen­tags. Denn die Betreiberfamilie des Grace und auch der Groß­teil des Publi­kums stammen aus Burma. Daher hat das Essen einen merklich anderen Stil.

Wenn ich per mutiger Einpunkt­extrapola­tion das Grace für ein typi­sches Bei­spiel der Küche der burmesi­schen Mizos und Chins halten soll, dann komme ich zum Schluß, daß in Burma Fer­mentations­aromen eine größere Rolle als in Indien spielen. Ein sehr saures und würzi­ges Sauer­kraut (Antam Thur) fiel mir be­son­ders auf (daß am Markt auch eine Art Sauer­ampfer namens Antur Sen ver­kauft wird, steht damit wohl in keinem Zu­sammen­hang). Außer­dem gibt es im Grace eine sehr aroma­ti­sche Würze aus bur­mesi­scher Fisch­paste (Ngapi) und ge­trock­neten Chilies, die sehr an einen intensiv mit der Garnelen­paste Trassi gewürzten Sambal aus Indo­nesien oder an die thai­ländi­sche Chili-Paste Nam Prik Pao erinnert.

Indian/Burmese/Mizo Food: Condiment made from grated ginger, chili and long coriander leaves

Burmesische Würzen: Links aus Minzblättern, rechts aus Ingwer und Langem Koriander

Burmese/Mizo Green Tea, served in Aizawl/Mizoram/North Eastern India Burmese/Mizo Green Tea, served in Aizawl/Mizoram/North Eastern India

Ein Wunder ist geschehen: Grüntee!

Indian/Burmese/Mizo Food: Onion-chili condiment (chetani, chawtrani)

Schmerzhaft scharfes Chawṭani

Die ZwiebelChili-Würze Chaw Ṭani wird im Grace mit frischen Zwiebel­ringen und brutal scharfen roten frutescens-Chilies her­gestellt und schmeckt tränen­treibend beißend (War­nung: Multi­burn-Effekt). Es gibt auch noch andere eigen­artige Würz­pasten, und zwar un­vorher­sagbar jeden Tag eine andere: Einmal bekam ich ein säuer­lich–aromati­sches Mus aus Pfeffer­minz­blättern, Tomaten und Chilies, ein anderes Mal dagegen eine krümelige Masse aus Chili, Ingwer und ganz fein zer­zupf­ten Blättern von Langem Koriander. Das macht durch­aus Appetit auf Burma, auch wenn das aus anderen Gründen für mich eher nicht in Frage kommt.

Die größ­te Freude machte mir in diesem Laden das Getränke­angebot: Beim ersten Mal er­klärte man mir schonend, daß Schwarz­tee nicht zur Ver­fügung stünde; aber statt­dessen könne ich Thingpui sring haben, was jedoch auf Englisch schwer zu er­klären sei, und des­halb solle ich es mir lieber ansehen, ob es denn auch paßt. Es erwies sich als Grün­tee! Das ist das erste Mal, daß ich so etwas in Indien gesehen habe (und erst der zweite Mal auf der ganzen Reise); inzwischen konnte ich mich auch auf dem Markt mit einem Vorrat davon eindecken. Offen­bar spülen die Schmuggel­wege aus Burma auch diese in Indien so seltene Spezialität ins Land.


Aizawl 1 Matale & Nalanda Gedige

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