Der Chandragiri, gesehen vom Vindhyagiri
Aufstieg auf den Vindhyagiri
Die Statue von Gomateshwara auf dem Gipfel des Vindhyagiri
Liebe Birgit,
stell Dir vor: Aus einer ganz flachen Ebene erheben sich zwei kleine, mit rundlichen Granitfelsen bedeckte Hügel. Dazwischen liegt ein quadratischer Wasserspeicher, um den sich die Häuser eines Dorfes drängen. Der ganze Ort ist heilig, und beide Hügel werden von Tempelkomplexen gekrönt; den ganzen Tag lang pilgern barfüßige Inder über in den Stein gehauene Treppen zu den Tempelanlagen hinauf. Das ist Sravanabelagola.
Die Statue von Gomateshvara auf dem Gipfel des Vindhyagiri
Der Tempelkomplex auf dem Chandragiri; im Vordergrund der Manastambha
Der Ort ist gewissermaßen ein lebendes Fossil, denn hier ist ein Stück Vergangenheit lebendig geblieben: Etwa ein Drittel der Einwohner, so erzählte man mir, bekennen sich noch zum Jainismus.
Von dieser Religion war hier schon öfters länger oder kürzer die Rede. Noch vor tausend Jahren waren die Jains über ganz Indien verbreitet und konnten den Hindus und Buddhisten ernsthaft numerische Konkurrenz machen; ihre Theologie und Philosophie prägte das zeitgenössische indische Denken und wirkt bis heute fort. Und doch ist die Anzahl der Jains heute auf etwa ein Crore Gläubige geschrumpft (davon knapp die Hälfte in Indien, die anderen in der Diaspora), die vorwiegend im (Nord)westen leben und selbst dort nur 1–2% der Bevölkerung stellen.
Der Tempelkomplex auf dem Chandragiri; im Vordergrund der Manastambha
Das Eingangstor (Akhanda Bagilu) zum Komplex am Vindhyagiri
Sravanabelagola ist einer der bedeutendsten Jain-Wallfahrtsorte, vielleicht noch beliebter als die großen Tempelkomplexe in Rajasthan und Gujarat. Eine riesige, knapp 20 m große monolithische Statue von Gomateshwara, einem legendären Sohn des ebenso legendären Ersten Furtbereiters Adinath, steht auf dem Vindhyagiri, dem höheren der beiden Hügel, und blickt mit entspanntem Gesicht auf das Dorf herab. Nicht zuletzt betreiben die bekanntermaßen bildungsversessenen Jains hier auch Schulen und Colleges, die vorwiegend jainistische Schüler und Schülerinnen aus allen Teilen Indiens anziehen.
Das Eingangstor (Akhanda Bagilu) zum Komplex am Vindhyagiri
Sri Parshvanatha am Chandragiri
Mandapa im Kattale Basti (Chandragiri)
Purohita am Fuß der Gomateshvara-Statue
Ein Jain-Trust betreibt eine Ansammlung von Guest Houses, in denen es sich ganz gut und billig wohnen läßt; allerdings bereitete mir die florierende Kakerlaken-Population einiges Kopfzerbechen. Zwar führe ich stets etwas Kakerlaken-Kreide mit mir, aber deren Einsatz ist in einem ganz dem Ahimsa-Prinzip gewidmeten Hotelbetrieb moralisch eher fragwürdig. Ein Jain-Priester (Purohita) erklärte mir sogar, er verwende nicht einmal Mosquito Coils, obwohl diese Stinkspiralen die Blutsauger ja eher vertreiben als vergiften. Geplagt von der Angstvorstellung, morgens von einem zehnstimmigen Chor mit “La Cucaracha” in meinem Bett geweckt zu werden, setzte ich die Kreide dann doch ein, und achtete darauf, am Abreisetag so rasch auszuchecken, daß man die Bescherung erst nach meinem Fortgang bemerken würde.
Mandapa im Kattale Basti (Chandragiri)
Sri Parshvanatha am Chandragiri
Mandapa im Kattale Basti (Chandragiri)
Purohita am Fuß der Gomateshwara-Statue
Die meisten der Jain-Tempel sind kleine, übersichtliche Strukturen: Geschlossene, außen wenig verzierte Gebäude mit nur einem Eingang, einer kleinen Säulenhalle und gewöhnlich nur einem Schrein, in dem ein Tirthankara-Kultbild erglänzt. Viele der Tempel gehören zur Digambara-Sekte, und daher sind die Tirthankaras oft stehend und nackt abgebildet. Vor vielen Tempeln finden sich Graffiti im Felsboden oder sogar Stelen mit Inschriften, so daß die Tempel recht genau datiert werden können; sie sind bis zu 1000 Jahre alt. Allerdings dürfte die Kultstätte selbst viel älter sein; die Legende spricht von der Maurya-Epoche, also stolzen 2500 Jahren.
Purohita am Fuß der Gomateshwara-Statue
Die im wahrsten Sinne des Wortes überragende Sehenswürdigkeit ist die große Statue von Gomateshwara (auch Bahubali genannt), die in ihrem kleinen Innenhof eines Tempels auf der Spitze des Vindhyagiri leider gar nicht richtig zur Geltung kommen kann. Auch dieser Heilige ist nackt abgebildet; zu seinen Füßen steht ein Purohita und spendet den Segen für die Pilger. Inschriften in verschiedenen Sprachen und Schriften bedecken die Umgebung rund um die Füße des Kolosses.
Durchbrochene Steinwand mit Relief im Chandragupta Basti
Kultbild im Shasana Basti, flankiert von Gomeda Yaksha und Yakshi Kushmandini Devi
Durchbrochene Steinwand mit Relief im Chandragupta Basti
Die schöneren Tempel stehen jedoch auf dem Chandragiri: Der große Parshvanatha Basti beherbergt eine glänzende, fünf Meter hohe Statue des dreiundzwanzigsten Furtbereiters mit seiner kanonischen Haube aus einer siebenköpfigen Schlange, und gleich vor dem Tempel strebt ein schlanker Manastambha himmelwärts. Ein kleiner Tempel namens Chandragupta Basti erzählt in einem kunstvollen Steinrelief die Geschichte des Maurya-Königs Chandragupta, der hier unter Anleitung des berühmten Jain-Lehrers Acharya Badrabahu meditierend der Welt entsagte. Und der zweistöckige Chavundaraya Basti besticht durch eine relativ große Halle mit glattpolierten, runden Säulen.
Kultbild im Shasana Basti, flankiert von Gomeda Yaksha und Yakshi Kushmandini Devi
Sitaphalas in den linken Händen von Schutzgeistern in einigen Tempeln am Chandragiri: Links Gomeda Yaksha (Kattale Basti) und Sarwahna Yaksha (Chavundaraya Basti). Mitte und rechts die beiden Figuren aus dem Shasana Basti; der von Yakshi Kushmandini Devi gehaltene Sitaphal (rechts) sieht abweichend wie ein Pinienzapfen aus.
Das Heiligtum in eine solchen Tempel besteht im Wesentlichen nur aus einer Nische an der Stirnseite mit einem schlichten Tirthankara-Kultbild, das in den meisten Tempeln abends etwas geschmückt und mit Kerzen beleuchtet wird. Links und rechts von der Nische sind gewöhnlich die „Schutzgeister“, abgebildet: Links der männliche (Yaksha) und rechts die weibliche (Yakshini oder Yakshi). Es gibt verschiedene solche Beschützer, um die sich jeweils spezifische Legenden ranken; manche werden von Jains fast wie Götter verehrt, obwohl die Jain-Religion ja eigentlich atheistisch ist (Parallen zum Buddhismus, besonders in seiner Mahayana-Form, drängen sich auf). In den meisten Jain-Tempeln, die ich bisher gesehen habe, waren diese Yakshas nur als Relief gearbeitet, aber hier findet man volle Statuen dieser meist etwas klein und gedrungen dargestellten Wesen, die eine Vielzahl ikonographischer Attribute in den Händen halten. Darunter auch etwas, was mich verdächtig an die „Maiskolben“ von Somnathpur erinnerte.
Sitaphalas in den linken Händen von Schutzgeistern in einigen Tempeln am Chandragiri: Links Gomeda Yaksha (Kattale Basti) und Sarwahna Yaksha (Chavundaraya Basti). Mitte und rechts die beiden Figuren aus dem Shasana Basti; der von Yakshi Kushmandini Devi gehaltene Sitaphala (rechts) sieht abweichend wie ein Pinienzapfen aus.
Annonen wachsen in Indien verwildert und werden in verschiedenen Sprachen als Sitaphala bezeichnet. Diese hier war mir am Marsch nach Kumbhalgarh über den Weg gelaufen.
Hybrid aus Meals und Thali
Annonen wachsen in Indien verwildert und werden in verschiedenen Sprachen als Sitaphala bezeichnet. Diese hier war mir am Marsch nach Kumbhalgarh über den Weg gelaufen.
Diese Objekte werden immer in der linken Hand gehalten, in derselben etwas verkrampften Handhaltung, wie ich sie auch in den etwas jüngeren Hoysala-Tempeln beobachtet hatte. Sie sind noch bauchiger als jene (sehen also noch weniger nach Mais aus) und unterscheiden sich in einem weiteren, ganz wesentlichen Detail: Die „Körner“ sind meist nicht in Längsreihen, sondern entweder in Querreihen oder in einem hexagonalen Muster angeordnet (diese beiden Alternativen sind topologisch äquivalent und daher oft nicht klar unterscheidbar). Mais kann es also kaum sein; ich fragte die Anwesenden danach, und erhielt eine eindeutige aber trotzdem unbefriedigende Antwort: Sitaphala, die „Frucht der Sita“. Mein Sanskrit-Wörterbuch gibt dazu die Bedeutung „Rahmapfel, Annona squamosa“, und das ist auch die Bedeutung im modernen Kannada oder Hindi. Allerdings ist auch diese Annone eine neuweltliche Frucht, deren Anwesenheit im mittelalterlichen Indien eine echte Überraschung wäre (heute wächst sie allerdings vielerorts verwildert). Allzugroß ist die Ähnlichkeit aber ohnehin nicht: Die Schuppen der Annone sehen nicht wirklich wie Samenkörner aus und sind auch viel größer.
Hybrid aus Meals und Thali
Toast
Alu Gede Ban
Hybrid aus Meals und Thali
Bei der Verpflegung stinkt Sravanabelagola selbst im Vergleich zu den nicht gerade herausragenden Orten davor richtig ab. Damit will ich mich nicht über die vollständig vegetarische Ausrichtung der Küche beschweren; aber es schmeckt einfach nicht so recht. Offenbar wegen der vielen nordindischen Besucher ist das Essen nämlich ein rüder Mix aus Nord und Süd, und selbst die Meals werden mit Chapati serviert. Immerhin konnte ich das dazu nutzen, um wieder einal ein bißchen Paneer zu essen. Der Wirt im größten (aber nicht unbedingt besten) Restaurant des Ortes, obwohl selbst Hindu, bot zusätzlich zu den Kartoffeln trocken frittierte Kochbananen an, weil Jains ja mit Wurzelgemüsen so ihre Probleme haben.
Toast
Alu Gede Ban
Dafür konnte ich am Straßenrand Neues probieren: Viele Händler verkaufen reichlich europäisch aussehende Torten (Vorsicht, Zuckerschock!) und auch einige pikante Snacks. Es handelt sich dabei um Sandwiches oder Toast aus stark gesüßtem, perfekt plastisch deformierbarem Badeschwamm-Brot. Der Belag ist allerdings teilweise überraschend würzig und übersticht die Süße spielend. Der in Butterschmalz gebratene und mit einer Mischung aus gedünsteten Zwiebeln und Chilies belegte Toast schmeckte sogar richtig gut; etwas lahmer war dagegen der Alu Gede Ban (“potato bun”, mit Kartoffelstücken gefülltes süßes Hefegebäck), der zu allem Überfluß vor dem Servieren in Tomatenketchup ertränkt wurde.
Besserung ist in Sicht: Nächste Woche fahre ich an die Küste, in das für seine vegetarische Küche berühmte Udupi.
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